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Bayreuth, 25.04.2024

 

Keine Entwarnung für Mobiltelefonierer

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Ist Handystrahlung doch gefährlich? Eine neue Forschungsarbeit aus Deutschland zeigt: Menschliche Zellen könnten beim Mobiltelefonieren viel stärker erhitzt werden als bislang angenommen. Seine Töchter, 16 und 18, sind im besten Alter für exzessives Handytelefonieren. Aber in der Familie von Markus Antonietti gilt eine klare Abmachung: Ein Handygespräch ist spätestens nach fünf Minuten zu Ende. Dann ist das Wichtigste gesagt, oder es wird aufs Festnetz gewechselt. "Die sollen sich nicht die ganze Akkuladung ins Gehirn pusten", sagt Antonietti. Markus Antonietti, Direktor des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Golm bei Potsdam, leitet Deutschlands bekannteste Forschungsgruppe in der Materialwissenschaft, er ist ein nüchtern argumentierender Wissenschaftler, kein Panikmacher. Aber er macht sich Sorgen: dass Handystrahlung die Synapsen im Gehirn aufheizt. Nicht um 1 Grad, sondern auf 100. Das folgt aus einem neuen Experiment am Max-Planck-Institut.

Titel der Forschungsreihe erinnert nicht an Handys

In der Forschungsarbeit, die in Kürze veröffentlicht wird, steht nichts von Handys, die Überschrift lautet Mikrowellenabsorption in Emulsionen mit wässrigen Mikro- und Nanotröpfchen. Aber wenn Antonietti dieser Tage Vorträge vor Kollegen an anderen Universitäten hält, dann wissen die, was daraus folgt. Antonietti sagt: "Manche von denen telefonieren jetzt weniger." Es gibt bislang nur wenige, umstrittene Forschungsarbeiten, aus denen man auf Gesundheitsrisiken der Handystrahlung schließen könnte. Für eine zuverlässige Risikobewertung sind Mobiltelefone noch nicht lange genug in Gebrauch. "Offensichtlich überleben wir das Telefonieren mit einem Handy", sagt Antonietti, "aber was sind die Langzeitfolgen?" Bislang schert sich niemand darum: Die Tarife sinken, die Flatrate kommt. Wir nutzen das Handy nicht weniger, sondern mehr, wenn auch mit Unbehagen: In einer repräsentativen Emnid-Umfrage im Auftrag von ZEIT Wissen gaben 55 Prozent der Befragten an, sie glaubten, Handystrahlung stelle ein gesundheitliches Risiko dar. Sind Vieltelefonierer ähnlich gefährdet wie Kettenraucher? Oder ist die Angst so übertrieben wie die vor dem Tod durch Rindfleischverzehr? In 30 Jahren wird man es wissen, vielleicht. So lange will keiner warten, und deshalb wird ausgiebig geforscht. 10 000 Arbeiten hat die Website emf-portal.de gezählt. Da gibt es Tierversuche, in denen Forscher Mäuse mit Mikrowellen befelden und später die Temperatur des Mäusehirns messen. Und Grundlagenexperimente, in denen Biochemiker Zellen bestrahlen und anschließend DNA-Schäden suchen.

Die kurzfristige Temperaturerhöhung messen, anstatt nur Mittelwerte

Die Versuche an Tieren - und an Leichen - haben gezeigt: Starke elektromagnetische Strahlung bei den handytypischen Frequenzen von einem bis zwei Gigahertz erwärmt das Gewebe. Keine Überraschung, schließlich arbeiten Mikrowellenherde mit ähnlichen Frequenzen. Daraus haben Strahlenschützer die Grenzwerte für Handys abgeleitet. Sie sollen garantieren, dass die Erwärmung von Gehirnzellen oder Haut weit unter einem Grad Celsius bleibt. Doch genau hier liegt das Problem, sagt Markus Antonietti. "Es reicht nicht, die mittlere Temperaturerhöhung zu messen. Kurzzeitig können viel höhere Temperaturen auftreten." Immer mal wieder finden Forscher eine kaputte DNA in der befeldeten Zellkultur oder einen Tumor im Rattenkopf, und dann warnen die Mobilfunkgegner vor Mobilfunk, und die Industrie warnt vor voreiligen Schlüssen. Antonietti kennt das Ritual, und daher hat er seine Experimente mit zwei Professoren von der FU Berlin und der Universität Leipzig durchgeführt, von denen einer auch für Telekom-Firmen forscht.

Simulationen am "ausgelagerten Gehirn"

Die Sorge des Max-Planck-Forschers gilt den Nervenzellen und Synapsen im Gehirn. Denn an den Enden der Nervenzellen lagern sich elektrisch geladene Atome (Ionen) an, auf diese Weise kommunizieren die Zellen untereinander. Und diese Ionen werden durch Handystrahlung ins Schwingen gebracht. Wie stark, das lässt sich nicht direkt messen, schließlich kann man in die Zellen kein Thermometer einschleusen. Antonietti und seine Kollegen wenden deshalb einen Trick an: Sie bilden die Zellmembranen mit winzigen Fetttröpfchen in Salzwasser nach. An denen lagern sich Ionen an, und durch eine Veränderung der Salzkonzentration und der Tröpfchengröße lassen sich die Bedingungen von biologischem Gewebe simulieren, also eine Art konzentriertes flüssiges Gehirn. "Und jetzt kommt die Tragödie", sagt der Max-Planck-Direktor. "Genau da, wo wir den Bedingungen im Gehirn am nächsten sind, sehen wir die stärkste Aufheizung." Temperaturspitzen von 100 Grad. Er hatte mit einer Erwärmung gerechnet, aber nicht in dieser Stärke. "Da wird hundertmal so viel Energie absorbiert wie bisher gedacht. Das ist ein Horror."

Vergleich mit Bratwurst und Kartoffelbrei

Es ist so wie mit der Bratwurst und dem Kartoffelbrei, sagt Antonietti. Wenn man beides in der Mikrowelle erwärmt, wird die Bratwurst viel schneller heiß als der Kartoffelbrei. Denn die Wurst enthält feinste Fetttröpfchen, umgeben von Wasser. An den Zellwänden von Fett und Wasser lagern sich elektrische Ladungen an, und die werden von den Mikrowellen sehr effizient erhitzt. Leider ist das Gehirn mehr Bratwurst als Kartoffelbrei. Ist Handystrahlung also gefährlich fürs Hirn? Vor solchen Aussagen werde er sich hüten, sagt Antonietti. »Die Mobilfunkindustrie hat gute Anwälte, aber auch aus wissenschaftlicher Sicht wäre die Schlussfolgerung voreilig. Wie die kurzzeitige Erhitzung der Zellen sich auswirkt, ob dadurch das Risiko für Tumore steigt, können erst Experimente mit menschlichen Zellen und klinische Studien zeigen. "Aber wir kennen jetzt den Mechanismus, der zur Zellschädigung führen könnte. Als Wissenschaftler bin ich besorgt."

Reflexstudie findet Genschäden

Tatsächlich haben Wiener Mediziner vor zwei Jahren im Rahmen der EU-Studie "Reflex" gemessen, dass Handystrahlung Genschäden an menschlichen Zellen verursacht - und zwar bereits weit unterhalb des gesetzlichen Grenzwerts von 2 Watt pro Kilogramm. Schon ab 0,3 Watt hatten die Wissenschaftler DNA-Schäden gemessen, die meisten Handys strahlen stärker. Mobilfunkgegner nahmen die Meldung geradezu euphorisch auf. Endlich konnten sie sich auf ein anerkanntes Institut berufen, und auch die Wiener Ärztekammer nahm die Studie unlängst zum Anlass, Kinder vor übermäßigem Handytelefonieren zu warnen. "Würden Medikamente dieselben Prüfergebnisse wie Handystrahlen liefern, müsste man sie sofort vom Markt nehmen", sagt Erik Huber, Referent für Umweltmedizin. Allein, die Ergebnisse können von anderen Forschern bis heute nicht reproduziert werden. Der Humangenetiker Günter Speit von der Universität Ulm hat mit der Wiener Arbeitsgruppe sogar Doktoranden und Geräte ausgetauscht, um die Messungen zu wiederholen. Sie bestrahlten Zellkulturen aus der männlichen Vorhaut und von chinesischen Hamstern - die sind besonders empfindlich. Nach mehreren Monaten stand fest: keine Unterschiede mit und ohne Handystrahlung. Speit hat die Arbeit zur Veröffentlichung an das Fachblatt Mutation Research geschickt. Warum die Kollegen aus Wien damals DNA-Schäden beobachtet haben, kann er sich nicht erklären. "Ich zweifle nicht, dass die Schäden gesehen haben. Aber alles, was wir gemessen haben, spricht gegen genetische Effekte - und ich habe nichts mit der Mobilfunkindustrie zu tun."

Reicht der Reparaturmechanismus zum Schutz der Zellen aus?

Selbst wenn Handystrahlung das Erbgut schädigen würde, könnte man daraus nicht schließen: Handys verursachen Krebs. Denn DNA-Schäden im menschlichen Stoffwechsel sind ganz normal. Jede Zelle des Körpers müsse täglich mit mehreren tausend DNA-Schäden fertig werden, sagt Mutationsforscher Speit, oft verursacht von Sauerstoff-Radikalen. Die Natur hat sich darauf eingestellt: Allein 200 Gene sind für die Reparatur der Schäden zuständig. Wer Gewissheit will, muss warten. Etwa auf das Bundesamt für Strahlenschutz, das gerade beginnt, rund 50 Forschungsprojekte zum Mobilfunkrisiko auszuwerten. Vielleicht werden am Ende neue Grenzwerte erlassen. Aber die Studie wird nicht die Frage nach den Langzeitfolgen beantworten können. "Es geht nicht darum, Handys abzuschaffen", sagt Markus Antonietti in seinem Büro in Golm. "Es geht um vernünftige Verhaltensregeln." Headset benutzen, in Maßen telefonieren, auf niedrige Strahlungswerte achten. "Wenn statt 1000 nur 400 Krebs kriegen, hat man 600 gerettet."

Quelle: Zeit-Wissen Nr. 05/2006 von Max Rauner






 


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